Arbeiten an Schwellen
Für die erlebnispädagogische Praxis ist eine bewusste Arbeit mit Schwellen sehr wichtig. Bereits in der Planungsphase erlebnispädagogischer Aktionen ist es entscheidend sein Augenmerk auf Schwellen zu legen, und sowohl das Setting als auch die geplanten Methoden und Impulse entsprechend festzulegen.
Doch wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von „Schwellen“ reden? Schwellen im Bereich des menschlichen Lebens und Zusammenlebens begegnen uns immer wieder. Es sind Grenzen, bei deren Überschreitung Menschen ihre persönliche Komfortzone – sei es als Individuum oder als Gruppe – verlassen. Bei Menschen im Kindergartenalter etwa kann immer wieder beobachtet werden, dass sie bei der Eingewöhnung in die Kita bei der Übergabe durch ein Elternteil an eine Erzieherin/ einen Erzieher und damit verbunden auch das tatsächliche Überqueren der Grenze zur neuen, eigenen Kita-Gruppe in heftiges Schreien ausbrechen. Dieses hält – wenn es gut läuft – dann vielleicht nur sehr kurze Zeit an. Das Kind findet eine Sache in der Gruppe, die sein Interesse weckt und kümmert sich nicht mehr um die (überwundene) Schwelle. Nun mag es eventuell mehrere Stunden in der Kita-Gruppe verbringen ohne das Elternteil zu vermissen.
Schwellen ergeben sich im menschlichen Leben also immer dort, wo Neuland beginnt. An allen Stellen, an denen Menschen neues Terrain betreten können gibt es eine wahrnehmbare Schwelle – sei sie mentaler, emotionaler oder auch körperlicher Art.
In der Erlebnispädagogik betonen wir gerne, dass wir den Menschen eine Zeit im Nicht-Alltäglichen als Lernzeit an einem nicht-alltäglichen Ort als Lernort bereiten wollen. Diesem Nicht-Alltäglichen sind Schwellen im beschriebenen Sinne wesenseigen. Die Aufgabe der Erlebnispädagogik liegt nun darin das Setting so zu gestalten, dass eine gute Aussicht besteht, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer es schaffen ihre eigenen Schwellen zu überschreiten. Dafür muss das Setting ansprechend sein, eine gewisse Herausforderung bieten, die Menschen aber auch befähigen die Aufgaben von ihrem Standort (mental, emotional, körperlich) bei Ankunft im Setting aus bewältigen zu können. Diesen individuellen Standort zu (er-)kennen und entsprechend zu arbeiten gehört zum Kern der erlebnispädagogischen Tätigkeit. Dies gilt im Umgang mit Menschen jeden Alters und unabhängig vom Hintergrund der Menschen.
Wichtig ist dabei darauf zu achten nicht zu viel zu wollen. Für den eingefleischten Städter, der in seinem Alltag die größte Nähe zur Natur bei seltenen Spaziergängen im Stadtpark erreicht ist es vielleicht sinnvoll vor der ggf. angestrebten Visionssuche zunächst einmal eine Nacht draußen im Wald zu verbringen. Und davor kann vielleicht auch erst einmal eine Nacht im Zelt im Garten kommen. Davor unter Umständen auch eine längere Tageswanderung in den hellen Stunden im Wald usw.
Begegnet man seinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf diese Weise, so kann es gut gelingen den Menschen bewusstes Erleben zu ermöglichen. Schülerinnen und Schüler, die sich überwinden in der einfachen Unterkunft im Wald doch auf die Toilette zu gehen, obwohl vielleicht auch eine Spinne an der Wand sitzen könnte. Menschen, die Spaß in der natürlichen Umgebung haben und gar nicht merken, dass der Smartphone-Akku schon lange leer ist. Eltern, die mit ihren Kindern im Sand Burgen bauen und sich wieder fühlen (dürfen) als seien sie selbst Kinder. Bei all diesen Beispielen sind Schwellen zu überwinden. Ein gewisser Ekel vor den Tieren des Waldes, ein Verzicht auf moderne Kommunikationstechnik, die Schwelle der eigenen Rolle als Erwachsener und Elternteil für eine bestimmte Zeit.
Diese Schwellenüberwindungen werden möglich durch Settings und Aufgabenstellungen die fordern, die aber auch so organisiert sind, dass man sich in ihnen wohlfühlen kann, dass man versorgt ist.
So kann die Erlebnispädagogik dazu beitragen, dass Menschen durch das Überwinden von Schwellen ihren eigenen Standort – mental, emotional oder körperlich – in positiver Weise verändern, neue Einblicke in ihr Leben und in die eigene Gruppe gewinnen. Das Leben ist voller Schwellen, die überwunden sein wollen. Die Erlebnispädagogik kann hier helfen viele kleine und große Schritte zu gehen. Vielleicht beginnend mit einem ersten kurzen Gang barfuß über Waldboden bis zu Erkenntnissen, dass eine etwa eine nachhaltige Lebensweise keinen Verlust, sondern einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten kann.